o. T. Hettstedt (2020/2021)

Ich war zwei Mal in Hettstedt: einmal zwei und einmal drei Nächte.

 

Bei meinem ersten Besuch stachen mir die allgegenwärtige Tristess des Ortes, Abwanderung, Leerstand und Verfall ins Auge. Doch ist es das, was ich fotografieren möchte? Das Klischee von der abgehängten Provinz? Eine verlassene Innenstadt, in der es nur noch einen Optiker (oder war es ein Hörgeräteladen?) und eine Filiale von Mäc Geiz gibt? Das ehemals prunkvolle Kaufhaus hatte auch schon bessere Zeiten gesehen.


Auf der Rückfahrt nach Leipzig hielten wir am Süßen See. Wir besuchten einen Flohmarkt, auf dem Nazidevotionalien nicht die Ausnahme, sondern die Regel waren. An einem Stand hörten wir ein Verkaufsgespräch zu Hitlers „Mein Kampf“.
Ein pummeliger Junge erwarb einen Stahlhelm und fühlte sich nun, seinen Worten nach, „wie ein richtiger Mann“.

Auch bei meinem zweiten Besuch bestätigte sich dieses Bild. Bei der Ankunft parkten wir direkt hinter einem Auto mit Thor-Steinar-Aufkleber. Wie sich herausstellte gehörte dieses Auto einem der Nachbarn. Im Haus gegenüber machte auch niemand ein Geheimnis aus der politischen Einstellung: ganze Familien in Thor-Steinar-Klamotten. Sie hatten unsere Anwesenheit auch bereits notiert. In der Silvesternacht stand ich in der Dunkelheit neben dem Haus und sah zwei Gesichter im obersten Fenster, die etwas Glühendes warfen, einen Böller auf unser Auto. Als sie mich entdeckten schlossen sie sofort das Fenster und ließen den Rollläden runter.


Im Stadtpark ziert ein krakeliges Hakenkreuz die Fassade eines historischen Gebäudes vis-à-vis vom Mahnmal für die Opfer des Faschismus im Mansfelder Land. Eine 180 Grad Drehung gibt den Blick frei auf eine riesige wehende Reichskriegsflagge auf dem angrenzenden Grundstück.

Unser Neujahrsspaziergang führte vorbei an der verrammelten Molmecker Kirche und dem verlassenen ehemaligen Kupferwalzwerk. Meine Oma erzählte mir, dass sie zu DDR-Zeiten dort hingefahren seien, um Kupfer für die Transformatoren einzukaufen, die mein Opa in seinem Betrieb gebaut hat. Schon damals sei es ihr ein Graus gewesen, nach Hettstedt zu fahren. Dieses Hettstedt sei schon immer trostlos gewesen.

 

Es fühlt sich beklemmend an, durch die Straßen zu gehen.

Auf dem Rückweg kamen wir mit einem Paar — schätzungsweise Ende 50 — ins Gespräch. Die Frau erzählte uns vom Wegzug und der Trostlosigkeit, schlimm sei es. Sie selbst habe in einer Wohnungsbaugenossenschaft gearbeitet und den Bevölkerungsrückgang hautnah erlebt. Das Paar selbst sagte, es habe den Absprung geschafft, lebe jetzt bei den Kindern in München und genieße das kulturelle Angebot dort sehr.
Kurt, unser Gastgeber, erzählt viel über positive Veränderungen im Ort, über Freundinnen und Freunde, die hier ihre Existenz aufgebaut haben und Hettstedt als Chance verstehen.